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Die Aufweichung der Fronten

Wir können nicht erwarten, jede Corona-Debatte zu gewinnen — wohl aber können wir verlangen, gehört zu werden.

von

  • Alexander Wiechert

Ein Riss geht durchs Land. Die Polarisierung ist weithin sichtbar — auf Demonstrationen, in den sozialen Medien und in den Parlamenten. Seit Corona in unser Leben getreten ist, fordern die einen unablässig mehr Schutz, mehr Hygiene, mehr Regeln und Beschränkungen; die anderen fürchten um Freiheit und Demokratie, gehen gegen Masken und Lockdown auf die Straße. Die Fronten sind verhärtet. Die Situation erinnert durchaus an Beziehungskrisen im fortgeschrittenen Stadium der Eskalation. Zum Glück gibt es gerade für solche Fälle Erfahrungswerte. Experten raten: Miteinander reden und zuhören. Nur so können Brücken über den Abgrund gebaut werden. Das geht aber nicht, solange ein Teil der betroffenen Menschen von der Debatte ausgeschlossen wird.


Das ist genau das, was wir von Anfang an fordern und möchten. Diskutieren und ernst genommen werden.

Debatte

Eine Debatte ist eine Form des Streitgesprächs mit formalen Regeln. In einer Debatte werden die Für- und Gegen-Argumente einer These in kurzen Reden vorgetragen. Eine Debatte kann nur in einer guten Streitkultur funktionieren. Die Kultur des Streitens ist ein elementarer Bestandteil einer funktionierenden demokratischen und pluralistischen Gesellschaft und dazu braucht es urteilsfähige und mündige Bürgerinnen und Bürger. Debattieren heißt Stellung zu beziehen, Argumente abzuwägen, diese begründet zum Ausdruck zu bringen und dabei auch Kritik vortragen zu können.

Corona als Verstärker der Polarisierung

Politikwissenschaftler von der Universität Bamberg sprechen von einer zunehmenden Polarisierung der Gesellschaft. „In der Forschung haben wir festgestellt, dass es dafür tiefgreifende und allgemein gesellschaftliche Ursachen gibt: zunehmende Ungleichheit zwischen den Einkommen, zwischen beruflicher Sicherheit und prekärer Beschäftigung, zwischen Stadt und Land“, so Professor Thomas Saalfeld. Diese Faktoren werden durch Corona verstärkt. Die Maßnahmen zur Einschränkung der Pandemie treffen vor allem diejenigen besonders hart, die schon vorher finanzielle Schwierigkeiten hatten. Die Schere zwischen Armen und Reichen klafft seit Beginn der Pandemie noch weiter auseinander. Das belegen zahlreiche Studien. 

So sind etwa Menschen, die personenbezogene Dienstleistungen anbieten, aufgrund ihres geringeren Einkommens auch in Fällen staatlicher Hilfsleistungen wie dem Kurzarbeitergeld finanziell schlechter gestellt. Pandemiebedingte Einkommenseinbußen betreffen vor allem Geringverdiener. Mini-jobbende und Solo-Selbstständige werden wiederum häufiger ihren Arbeitsplatz beziehungsweise ihre Einkommensgrundlage verlieren und vielfach durch das beitragsfinanzierte Sicherungsnetz fallen (1, 2).

Die neuen Spaltungen der Gesellschaft 

Corona spaltet die Gesellschaft in die Befürworter und die Kritiker, der von der Politik angeordneten Einschränkungen des privaten und öffentlichen Lebens.

Corona ist damit Teil einer Reihe neuer Spaltungen innerhalb der Bevölkerung, die ideologischen Schützengräben werden neu ausgehoben und tiefer. Zwar waren sich viele auch in der Vergangenheit bei wichtigen politischen Entscheidungen uneins, neu an der aktuellen Lage ist, dass die beteiligten Akteure im Vergleich zur Vergangenheit divergierende Positionen einnehmen. Ebenfalls neu ist die extreme Radikalität der Diskurse beziehungsweise deren Unterbindung. Neu sind auch die massive Marginalisierung und Stigmatisierung von Kritikern der Corona-Politik. 

Es scheint, als ob die Radikalität der Maßnahmen sich in der Radikalität der öffentlichen Meinung widerspiegelt.

Eine neue Form der Blockwart-Mentalität keimt auf und in Zeitungsartikeln wird gefragt, ob man dissidente Ärzte nicht gleich den Ärztekammern melden müsse, ein Berufsverbot im Ton mitschwingen lassend.

Die Radikalität des Diskurses äußert sich auch in der Tendenz, Corona zu einer Glaubensfrage zu machen. Zwischen Glauben und Irrglauben wurde ein Graben gezogen, der auch wissenschaftlich nicht mehr überbrückbar scheint. Welcher der Herren Virologen entscheidet denn nun, wer „Recht hat“: Hendrik Streek oder Christian Drosten? Oder ist es einfach die Anzahl der sich dem jeweiligen Lager zugehörigen „Experten“? Aber wer darf sich als Experte bezeichnen, darf sich ein HNO-Arzt oder ein Orthopäde überhaupt zum Thema äußern? 

Die täglichen Zahlen des RKI suggerieren eine objektive Wirklichkeit, die es so gar nicht gibt. Mit der Veröffentlichung versucht das RKI zu verbergen, dass alle Maßnahmen auf politischen Entscheidungen fußen (3).

Wer spaltet hier eigentlich das Land?

Ungeachtet der Anhänger des einen oder des anderen Lagers wird diese Spaltung aber vor allem verstärkt durch den massiven Einsatz der Medien. Alle Medienhäuser stimmen hier unisono das gleiche Lied an. Es gibt kaum eine von der Regierungslinie abweichende Berichterstattung. Man könnte meinen, dass hier der Haltungsjournalismus wichtiger ist als eine offene differenzierte Meinung. Vielleicht mag bei manchen Journalisten auch die Angst mitspielen, dass sie, falls die eigenen Worte nicht sorgsam an das gewünschte Narrativ der Berichterstattung angepasst werden, ihren Job und somit ihre Existenzgrundlage verlieren. Und es scheint so, als würden sich hier Politik und die Medien gegenseitig maximal stimulieren und befruchten in der Forderung nach immer neuen und härteren Maßnahmen.

Beispiele aus der Presse

WDR-Programmdirektor Jörn Schönenborn sieht es als Zukunftsaufgabe an, jene Menschen stärker in den Blick zu nehmen, die sich in der deutschen Gesellschaft ausgegrenzt sehen. „Ich glaube, dass wir denen was bieten müssen, die sich ausgegrenzt fühlen“, sagte Schönenborn am Mittwoch auf der Jahrespressekonferenz des Ersten in München.

„Weil sie eine andere Meinung haben oder weil sie nicht mithalten können oder weil sie nicht modern sind so wie andere oder weil sie Angst haben. Ich glaube, es ist eine wichtige Aufgabe, das im Blick zu haben“ (4).

Auch in Deutschland gab es in der ersten Corona-Welle regionale Unterschiede, die allerdings deutlich geringer ausfielen. So starben in Bremen rund 10 Prozent mehr Menschen als im Vergleichszeitraum der vergangenen Jahre, in Schleswig-Holstein waren es ein paar Prozent weniger. Regionale Regierungen seien in der Krise von hoher Relevanz, da sie beim Krisenmanagement an vorderster Front stünden, so die Bamberger Forscher. Auch Untersuchungen auf Landkreisebene legen in Deutschland einen Zusammenhang zwischen Populismus, Polarisierung und hoher Corona-Inzidenz nahe. Im Dezember 2020 stellten Soziologen mit Blick auf die hierzulande besonders stark vom Virus betroffenen Landkreise fest, dass es sich auffällig häufig um AfD-Hochburgen handelte (5).

Aus Sicht von Karl Lauterbach hat sich die Debatte in den vergangenen beiden Wochen stark zugespitzt. „Das hat damit zu tun, dass sich nun radikale Bewegungen gebildet haben, die zum einen die Maßnahmen kritisieren, was legitim ist, aber sich zum anderen teilweise radikalisieren und mit Verschwörungstheorien sowie Hassparolen arbeiten“, sagte Lauterbach dem Nachrichtenportal Watson. Eine dritte Gruppe nutzte die Situation aus, um im Internet Stimmung gegen die Köpfe der Corona-Kritiker zu machen (6).

Dialog mit kritischen Experten

Die Zufriedenheit mit der Bundesregierung in Sachen Corona in der Bevölkerung sinkt zusehends, wie der aktuelle ARD-Deutschland Trend zeigt: Waren am Jahresende 2020 noch 57 Prozent der Befragten mit dem Krisenmanagement von Bund und Ländern zufrieden, sind es jetzt nur noch 46 Prozent (7).

Mit der Dauer der Maßnahmen, dem eingeschlagenen Kurs der Regierung und der abnehmenden Zufriedenheit mit selbigen mehren sich die Stimmen derer, die sich den offenen Dialog mit kritischen Experten wünschen. 

Auch Abgeordnete der regierenden Fraktionen beschweren sich darüber – wenn auch nicht in öffentlichen Statements: „Für Entscheidungen von solch einer Tragweite muss man aber immer Sichtweisen von unterschiedlichen Wissenschaftlern anhören. Ich sage nicht, dass die heftigen Kritiker der Maßnahmen recht haben, aber als Abgeordneter kann ich sagen: Ich will, dass auch sie zu Wort kommen und man sich mit ihren Argumenten auseinandersetzt. Das müsste eigentlich zur Selbstverständlichkeit in einer Demokratie gehören“ (8).

In einer von ihm in Auftrag gegebenen repräsentativen Umfrage wollte der Journalist Boris Reitschuster wissen, wie die Bürgern des Landes die Debattenkultur im Bundestag sehen, mit folgender These: „Ich finde es falsch, dass die Bundesregierung in der Corona-Pandemie zu wenig auf die Experten hört, welche die Maßnahmen der Bundesregierung kritisieren.“

Eine deutliche Mehrheit von 47 Prozent findet es falsch, dass die Bundesregierung kaum einen Dialog eingeht mit Experten, die ihren Maßnahmen kritisch gegenüberstehen. 

„Es besteht also das Bedürfnis in einem großen Teil der Bevölkerung nach mehr Dialog, mehr Kontroverse und einer Einbindung statt Ausgrenzung von Kritikern der Corona-Maßnahmen in den öffentlichen Diskurs und damit auch in die Entscheidungsfindung. Das Ergebnis kann man durchaus als Ohrfeige für die Monokultur der Regierung in Sachen Experten auffassen.

Die Umfrage zeigt auf, dass die entstandene und forcierte Polarisierung gegenüber den kritischen Äußerungen nicht gesellschaftsübergreifend ist. Da sich nahezu jeder Zweite den Dialog mit kritischen Stimmen und deren Einbindung in die Entscheidungsfindung wünscht und nicht einmal jeder dritte offen gegen diese Beteiligung ist, zeigt, dass die Politik der massiven Spaltung und Ausgrenzung, die von weiten Teilen der Politik und Medienlandschaft getragen wird, nicht durchgehend auf fruchtbaren Boden fällt. Vielleicht ist die Lage in Sachen Spaltung der Gesellschaft doch nicht ganz so dramatisch, wie diese beim Verfolgen von Politik und Medien erscheint“ (9).

Point of no return

Es ist festzustellen, dass sich durch die verschiedenen Aussagen der Beteiligten eine eigene Dynamik entstanden ist, die man nicht mehr unter Kontrolle hat, wenn man seine Glaubhaftigkeit nicht aufs Spiel setzen möchte. Die Bevölkerung sollte mit Angst “sensibilisiert” werden, damit sie sich wie gewünscht an die angeordneten Maßnahmen hält. So zu lesen im Strategiepapier des BMI.

„Um die gewünschte Schockwirkung zu erzielen, müssen die konkreten Auswirkungen einer Durchseuchung auf die menschliche Gesellschaft verdeutlicht werden:

Viele Schwerkranke werden von ihren Angehörigen ins Krankenhaus gebracht, aber abgewiesen, und sterben qualvoll um Luft ringend zu Hause. Das Ersticken oder nicht genug Luft kriegen ist für jeden Menschen eine Urangst. Die Situation, in der man nichts tun kann, um in Lebensgefahr schwebenden Angehörigen zu helfen, ebenfalls. Die Bilder aus Italien sind verstörend“ (10).

Die einmal geschürten Ängste haben sich verselbstständigt, das wiederum hat bei den Bürgern zu einer gesteigerten Erwartungshaltung hinsichtlich strenger Maßnahmen geführt, was die Politik nicht ignorieren kann.

Falls zu einem bestimmten Zeitpunkt offenkundige Indizien verfügbar sind, die die Politik nicht ignorieren kann, steckt diese in einem Dilemma. Was wäre, wenn wir, die Kritiker der Maßnahmen, teilweise recht hätten? Das würde zu massiven politischen Zerwürfnissen führen, die für die Demokratie sehr gefährlich werden könnten. Diese Gefahren müssen ebenfalls offen diskutiert und angesprochen können, insbesondere in den Medien und damit in der breiten Öffentlichkeit (7).

Aufeinander zugehen

Auf die jüngsten „Querdenken“-Proteste eingehend, rief Dietmar Pistorius auf, den Dialog mit den Kritikern der Corona-Maßnahmen zu suchen. Die Anzahl der Corona-Skeptiker steigt, laut Pistorius, Pfarrer und Superintendent im Evangelischen Kirchenkreis Bonn. Hier würden sich Menschen aus allen Altersgruppen, aus verschiedensten politischen — und sozialen Gruppen zusammenfinden. Er nehme aber auch zunehmende Aggressivität wahr, bei Menschen, die sich an Maskenpflicht und Abstand halten (11).

Pistorius nahm auch tatsächlich das Angebot der Protestierenden wahr und erschien persönlich am 18. November 2020 bei einer Demonstration gegen die Neufassung des Infektionsschutzgesetzes. Hier führte er einige Gespräche mit Kritikern der Corona-Maßnahmen, die darauf durchweg positiv reagierten.

„Ihn treibt die Sorge, dass der Streit in der Gesellschaft um die Corona-Schutzmaßnahmen eskaliert. Pistorius spricht mit Teilnehmern, die erstaunt, aber freudig darauf reagieren, dass sie angehört werden. „Ich halte es für notwendig, dass wir mehr miteinander reden. Wir kommen in konfrontative Positionen und vertreten diese mit Vehemenz und häufig mit heftigen Attacken auf die jeweils andere Position und die Personen, die sie vertreten“, sagt er hinterher“ (12).

Dies kann nur ein Anfang sein, aber er zeigt, wenn sich beide Seiten um den Dialog bemühen, besteht die reale Chance, die bereits existierenden Gräben Stück für Stück wieder zuzuschütten und aufeinander zuzugehen.

Nachwort

Wenn im öffentlichen Diskurs, hier muss man die Rolle der Medien im Besonderen betonen, aufgehört wird, mittels Framing die Kritiker der Maßnahmen pauschal in die Ecke der Leugner, Verschwörungstheoretiker, Impfgegner und Rechten zu rücken, entstehen Räume, um wieder aufeinander zuzugehen. Statt zu spalten sollten sich die Vertreter aller Parteien dem Dialog mit den Bürgern zuwenden. Da Menschen sich an Vorbildern orientieren und durch die mediale Dauerpräsenz der Stigmatisierung und Marginalisierung von kritischen Bürgern sowie das Schüren von Ängsten ein massives Klima des gegenseitigen Misstrauens entstanden ist, dann können dieses auch nur die Medien auflösen. Wenn dieser erste Schritt getan ist, könnte auch hier eine Wechselwirkung zwischen Medien und Politik einsetzen und sich das gesellschaftliche Klima wieder ändern.

Wir sollten aufhören, einander Vorwürfe zu machen, und unserem Gegenüber wieder ein offenes Ohr schenken für dessen Nöte und Ängste. Als Kritiker der Maßnahmen der Regierung und Behörden möchte ich noch einmal in aller Deutlichkeit sagen:

Wir möchten eine Stimme im demokratischen Prozess sein. Wir möchten integriert werden. Wir vertreten die Stimmen derer, die diese Maßnahmen nicht mittragen und die nicht geimpft werden möchten.


Quellen und Anmerkungen:

(1) https://www.tagesschau.de/inland/corona-polarisierung-gesellschaft-rassismus-101.html
(2) https://www.sowi.rub.de/mam/content/heinze/heinze/beckmann_schoenauer_corona_preprint.pdf
(3) https://www.heise.de/tp/features/Die-Schuetzengraeben-werden-umgegraben-5040666.html
(4) https://www.welt.de/vermischtes/article221605078/Schoenenborn-ARD-muss-denen-was-bieten-die-sich-ausgegrenzt-fuehlen.html
(5) https://www.spiegel.de/wissenschaft/medizin/coronavirus-wo-die-gesellschaft-gespalten-ist-sterben-mehr-menschen-an-covid-19-a-69ae5567-ce66-47bc-9c5d-713897b59ad8
(6) https://www.n-tv.de/politik/Spahn-warnt-vor-Polarisierung-wegen-Corona-article21809119.html
(7) https://www.tagesschau.de/inland/deutschlandtrend/deutschlandtrend-2489.html
(8) https://reitschuster.de/post/in-den-regierungsfraktionen-rumort-es/
(9) https://reitschuster.de/post/mehrheit-will-dass-regierung-bei-corona-mehr-auf-kritiker-hoert/
(10) https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/veroeffentlichungen/2020/corona/szenarienpapier-covid19.pdf?__blob=publicationFile&v=6
(11) https://ga.de/bonn/stadt-bonn/querdenker-in-bonn-zwei-neue-demos-geplant-autokorso-durch-die-stadt_aid-54671213
(12) https://ga.de/bonn/stadt-bonn/bonn-querdenker-demo-am-stadthaus-verlief-ruhig_aid-54689209